Ruth

So ziehen sie durch Venedig, s'ist Sonntag und das Wetter eine Pracht
Von Gässchen zu Strässchen zu Brückchen, na, wie haben die sich schön gemacht
Die Mutter im besten Kleide, ihr Mann, dann die Kinder und die Tante
Und am Rande, zwei Köpfe kleiner, Ruth, die mongoloide Verwandte

Ihr seid doch 'ne anständge Bande
Und ihr fügt euch auch tadellos ein
Und wär da nicht ich noch am Rande
Na, ihr wärt ein ganz netter Verein

Und da kommen Leute her und glauben
Dass euch solcherlei beileibe nicht beschämt
Und sie sehn eure kleinen, bittren Augen
Voller Fürsorge, tief vergrämt

So zieht das, verweilt und geht weiter, da ein Eis, dort ein schmuckes Souvenir
'Kinder, diese Federn, diese Masken! Greift zu, sind wir schon mal hier!'
Und die mongoloide Verwandte, sie kaut an ihren Fingern bis aufs Blut
'Von den Gondeln kaufen wir gleich zwei, nur, meine Lieben, was kaufen wir für Ruth?'

Ich bin doch ganz nett und im Grunde
Verdien ich der Welt Sympathie
Und hätt ich nicht euch mit im Bunde
Na, ich wär 'ne ganz gute Partie

Und da kommen all die Leut und glauben
Das ich selig bin im Kreise meiner Lieben
Und sie sehn meine grossen müden Augen
Und nicken zufrieden


Wie nett so ein Tag in Venedig, fällt das Leben einer sonst doch eher schwer
Da ist der Alltag mit den Nöten und den Plagen, da sind Steuern, Schulden, Zank
und noch was mehr
Und, ach, wie oft erliegt die Tante da dem Kummer und flennt: 'Meine Ruth ist dreissig
Jahre und ein Kind!'
Und klagt gen' Gott und Menschheit und gen' jene, die ganz ohne Grund bevorteilt sind

Ich bin doch im Grunde 'ne Plage
Und ihr mir 'ne unnütze last
Ihr duldet und ich, ich ertrage
Ach, wie sind wir uns alle verhasst
Wie gern würd ich die Schädel euch zertrümmern
Ein kleiner Wunsch nur, doch er bleibt bestehn

Drum rat ich euch:
Versäumt ein einziges Mal
Euch um den Schlüssel zu meiner süssen, kleinen mit
sehr vielen süssen, kleinen Nutzlosigkeiten vollgestopften
Kammer zu kümmern

Ich würd euch nichts tun, ich würd gehn.